Mündliche Beteiligungsnoten durch 360 Grad Feedback

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Flavio Carrera
Flavio
vor 2 Monaten

Wie wäre es, wenn Lehrpersonen die Einschätzungen der Schüler:innen und der Peers einbeziehen, um mündliche Beteiligungsnoten zu setzen, statt sich nur auf das eigene Urteil zu verlassen? Dieser Frage sind wir in einem Pilotprojekt an einer Schule nachgegangen. Mit erfreulichen Ergebnissen. 360-Grad-Feedback funktioniert auch an Schulen. Oder: erst recht.

Das notwendige Übel

An vielen Schulen sind Lehrpersonen verpflichtet, eine Note für die mündliche Beteiligung festzulegen. Wie genau diese Note zustande kommt, bleibt meist offen. Für Lehrkräfte ist die mündliche Note ein Stressfaktor, der oft ignoriert wird, bis das Zeugnis naht und das notwendige Übel besser oder schlechter bewältigt wird. Für die Schüler:innen wiederum bieten mündliche Noten ein hohes Frustrationspotenzial, da die Bewertung intransparent und – zumindest in ihren Augen – ungerecht erscheinen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass die Beurteilung mündlicher Beiträge über eine längere Zeitspanne hinweg besonders anfällig ist für Beobachtungsfehler wie beispielsweise Projektionsfehler, Halo-Effekte, oder Perseverationstendenzen: Es ist gut erforscht, dass Lehrpersonen dazu neigen, an einer einmaligen Wahrnehmung festzuhalten und weitere Indizien gar nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. [1]

Neue Wege mit Menon Expeditions

Es gibt gute Argumente dafür, gänzlich auf das Setzen mündlicher Beteiligungsnoten zu verzichten. Statt den Kampf gegen Windmühlen zu suchen, sind wir gemeinsam mit einer Schule neue Wege gegangen, um faire, transparente und entwicklungs-orientierte mündliche Beteiligungsnoten zu setzen. Der Grundgedanke ist bestechend einfach:

  • Die Klasse diskutiert und definiert zu Beginn des Semesters gemeinsam mit den Lehrpersonen, in welchen Verhaltensweisen sich eine gute, mündliche Beteiligung im Schulalltag zeigt

  • Die wichtigsten Indikatoren werden verabschiedet, schriftlich festgehalten und gut sichtbar im Unterrichtszimmer platziert

  • Spätestens vor Semesterschluss führen die Schüler:innen eine Selbsteinschätzung durch und befragen Peers und die Lehrperson(en)

  • Die Ergebnisse werden reflektiert und dienen zum Setzen eines Förderschwerpunktes für das zweite Semester

User Interface der Expedition «Mündliche Beteiligung»

Was bedeutet «gute mündliche Beteiligung»?

In einem Workshop zu Beginn des Semesters haben sich die Schüler:innen unter Leitung der Lehrperson mit der Frage befasst, wie sich die gute mündliche Beteiligung im Unterricht beobachten lässt. Als Vorarbeit hat die Lehrperson aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Quellen einen Pool möglicher Indikatoren zusammengestellt, die die Schüler:innen als Inspiration verwenden konnten.

Ein Indikatoren Pool aus wissenschaftlichen Quellen

Der Workshop endete mit einem Voting, verbunden mit einer moderierten Diskussion, im Rahmen dessen jede:r Schüler:in fünf Stimmen vergeben konnte für die Indikatoren, die sie/er als die Wichtigsten erachtete. Die Indikatoren, die die meisten Stimmen erhielten, wurden in die Kriterienliste aufgenommen, gemeinsam verabschiedet und gut sichtbar im Klassenzimmer aufgehängt. Von diesem Zeitpunkt an war allen Schüler:innen und Lehrpersonen klar, auf welche Aspekte bei der Beurteilung der mündlichen Mitarbeit geachtet werden würde.

Der gemeinsam verabschiedete Kriterienkatalog

Bei der Entwicklung des Indikatoren-Katalogs zeigte sich, dass in den Klassen Konsens darüber bestand, dass die mündliche Beteiligung nicht mit dem «Strecken» im Unterricht gleichgesetzt wurde. Die Art und Weise, wie eine Schüler:in sich am Unterricht beteiligen kann, ist vielfältig. Und diese Vielfältigkeit sollte sich auch in den Kriterien widerspiegeln. Die «Aktivität» war letztlich nur einer von neun Aspekten, die im Katalog aufgenommen wurden.

Die Schüler:innen im Driver's Seat

Nach einem Semester kam erstmals die Menon Expedition «Mündliche Mitarbeit» ins Spiel. Die Schüler:innen führten eine Selbsteinschätzung zu den Indikatoren durch, die sie selber festgelegt hatten und gaben mindestens drei weiteren, zufällig zugelosten Kamerad:innen eine Peer-Beurteilung. Jede Schüler:in durfte auch eine:n Wingman/Wingwoman bestimmen, die eine zusätzliche Perspektive einbrachten. Auch die Lehrperson gab jeder Schüler:in Feedback. Die Verantwortung wurde den Schüler:innen übertragen. Wollte eine Schüler:in nicht auf diese Form der alternativen Beurteilung zurückgreifen, so war es ihr überlassen, auf Fremd-, Peer- und Selbsteinschätzungen zu verzichten. Von insgesamt 60 Schüler:innen entschieden sich 58 dafür, den alternativen Weg auszuprobieren.

Einteilung der Peer-Feedback-Geber:innen und Wingmans

Wo stehe ich? Wo sehen mich andere?

Auf ihrem persönlichen Profil konnten die Schüler:innen nicht nur ihre Note einsehen, die aus den Beurteilungen der Indikatoren errechnet wurde. Sie konnten darüber hinaus ihre Selbsteinschätzung mit den Peer-Beurteilung vergleichen, besondere Stärken und Potenziale einsehen und erfuhren, als wie motiviert sie von der Klasse wahrgenommen wurden.

Motivation, eingeschätzt durch die Peers. Der violette Kreis entspricht der Selbsteinschätzung.

Die Reflexion der Einschätzung war jedoch nicht der letzte Schritt. Die Schüler:innen entwickelten aus dem mehrperspektivischen Feedback einen Entwicklungsfokus, in dem sie sich im darauf folgenden Semester weiterentwickeln wollten. Die Menon Expedition lieferte den Schüler:innen aufgrund des eingegangenen Feedbacks konkrete Empfehlungen.

Empfehlungen für die eigene Weiterentwicklung

Die Entscheidung, welchen Entwicklungsfokus sie wählen wollten, lag wiederum bei den Schüler:innen. Hierfür stellte ihnen die Lehrperson ein Dokument zur Verfügung, in dem sie wichtigsten Resultate aus ihrem Profil übertragen und das Entwicklungsziel schriftlich festhalten konnten.

Beispiel einer Reflexion einer Schüler:in

Die Lehrperson behält eine Kopie der Reflexionen bei sich, so dass sie diese im nächsten Semester, oder bei einem erneuten Gespräch oder Coaching konsultieren kann.

Entspannte Schüler:innen, entspannte Lehrperson

Die Bilanz dieses Experimentes fiel sehr positiv aus. Die Rücklaufquote lag bei weit über 90%, die Qualität der Peer-Feedbacks war hoch. Überraschenderweise lag der Durchschnitt über alle mündlichen Beteiligungsnoten hinweg nur bei 4.8. Den Lehrpersonen, die die mündliche Note setzen mussten, gab es zusätzliche Sicherheit, wenn sie ihre Einschätzung mit zwei weiteren Perspektiven vergleichen konnten. Wichen die drei Perspektiven stark voneinander ab, so konnten die Lehrpersonen das Gespräch mit den betroffenen Schüler:innen suchen.

  • [1] [1] Jürgens, Eiko. 1998. Leistung und Beurteilung in der Schule: Eine Einführung in Leistungs- und Bewertungsfragen aus pädagogischer Sicht. Sankt Augustin: Academia Verlag. S. 105–115.
  • [2] Berkemeier, A. & Spiegel, C. (2014). In der Schule Gesprächsfähigkeit fordern und fördern: Moderieren – Argumentieren – Zuhören. In: Grundler, E. & Spiegel, C. (Hrsg.) Konzeptionen des Mündlichen. Wissenschaftliche Perspektiven und didaktische Konsequenzen. Symposion Deutschdidaktik (Mündlichkeit, Bd. 3). Bern: Hep der Bildungsverl. S. 123 ff.)
  • [3] Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht: Ethnographische Studien zum Schülerjob (Vol. 24). Wiesbaden: VS, Verl. für Sozialwiss. S.98
  • [4] Krumwiede, F.; Schneider, J. & Wickner, M.-C. (2014). Mündliche und praktische Leistungen bewerten. Das Praxisbuch ; Sekundarstufe I + II; Profi-Tipps und Materialien aus der Lehrerfortbildung. Donauwörth: Auer. S. 18 ff.)
  • [5] Paradies, L.; Wester, F. & Greving, J. (2014). Leistungsmessung und -bewertung. Berlin: Cornelsen. S. 69
  • [6] Potthoff, U.; Steck-Lüschow, A. & Zitzke, E. (1996). Mündliche Leistungen bewerten – aber wie? Beobachtung und Bewertung von Gesprächsfähigkeit. In: Bambach, H. (Hrsg.) Prüfen und beurteilen: Zwischen Fördern und Zensieren (Vol. 14). Seelze: Friedrich. S. 14-17.